Ivan Ivanji – ehemals Zeitzeuge

 

„Ich bin sehr ungern Zeuge jener Zeit, die stets gemeint ist, wenn man mich als Zeitzeugen aufruft, um Aussagen zu machen. (…) Anfangs verstand ich es als Bezeichnung von Menschen, die den Holocaust persönlich erlebt und überlebt haben. Es gibt unendlich viele Berichte von Zeitzeugen, viele vor allem mit Beschreibungen wie schrecklich das war. Meine Teilnahme an den Versammlungen oder Gesprächen mit unterschiedlichstem Publikum natürlich inklusive. Allmählich aber klingt mir, was wir zu bezeugen haben, einfach wehleidig.

Wenn von mir die Rede ist, beginnt es immer wieder: `…der als Jude in den Konzentrationslagern, Auschwitz und Buchenwald…` Wenn ich im Leben nichts anderes vollbracht hätte, als „als Jude“ in Konzentrationslagern gewesen zu sein, wäre ich mit meinem Leben nicht zufrieden, und ich lebe nachdem ich überlebt habe, die Befreiung erlebt habe, schon siebzig Jahre lang weiter… Als was habe ich überlebt? Wer bin ich um als Zeuge einer ganzen Zeit des Bösen aufzutreten?

Ich bin der Meinung, dass das, was wir, die sogenannten Zeitzeugen, zu sagen hatten, gesagt ist. Ich will die Stafette weitergeben und kein Zeuge jener Zeit mehr sein. Nicht nur unser Leiden ist anzuklagen. Man kann es nicht oft genug wiederholen, auch jetzt, auch in diesem Augenblick, werden an vielen Orten der Welt Menschen aus ihren Häusern gejagt, beraubt, vertrieben, gefoltert, geköpft, erschlagen. Und andere, viele hunderttausende, befinden sich auf dem Wege, sie wissen nicht genau wohin, nach Deutschland, England, in ein vermeintlich besseres Leben. Dafür kann ich ebenfalls kein Zeitzeuge sein, nur mich erinnern, dass es nicht die erste Völkerwanderung der Geschichte ist.“

Ivan Ivanji, Protagonist und Interviewpartner unseres Buchenwaldfilms sagte diese Worte wider die Zeitzeugenschaft auf einem Kolloquium im letzten Sommer in Berlin. Mit jener Polemik –übrigens vorgetragen in seinem melodisch-charmanten Österreichisch, geradeso als säße man in einem Kaffeehaus– trat er für uns Zuhörer gewissermaßen symbolisch aus der öffentlichen Rolle des Buchenwald Häftlings Nr. 58116.

In der Tat hat Ivan in den jetzt 71 Jahren nach seiner Befreiung aus dem KZ ein ungeheuer aktionsreiches und schöpferisches Leben gelebt: er, der 1929 geborene Serbische Dichter und politische Essayist hat über dreißig Bücher geschrieben, davon 16 Romane und jeweils drei Bände mit Gedichten und Erzählungen. Darüber hinaus hat er Werke von Bert Brecht, Heinrich Böll, Günter Grass, Karl Jaspers, Max Frisch u.v.a. aus dem Deutschen ins Serbische übersetzt. Den politischen Essayisten und Journalisten Ivan Ivanji kann man heute noch regelmäßig zu Zeitfragen in der internationalen Presse lesen. Deutlich und bisweilen auch provokant bezieht er Stellung und zeigt ungebrochen Haltung; Humanismus als oberstes Gebot, die Unantastbarkeit des Menschen einfordernd. Ivan kann nicht anders, auf seine Stimme ist Verlaß.

Die Mechanismen von Politik und Macht hat Ivan Ivanji auf Tuchfühlung erlebt: er war lange Jahre Dolmetscher des Jugoslawischen Staatschefs Josip Broz Tito sowie von einigen Belgrader Außenministern. Dazu in den 1970er Jahren Botschaftsrat in Bonn. In diesen oft sehr heiklen Funktionen vor und hinter den Kulissen des Kalten Krieges lernte er viele der damaligen Deutschen politischen Akteure kennen: von Wehner bis Ulbricht, von Brandt über Genscher zu Kohl.

In seine Biografie weben sich die Jahre als Theaterdirektor, als Verlagslektor und Generalsekretär des Jugoslawischen Schriftstellerverbandes ein. Ich bin sicher, viele Stationen seines beruflichen wie kreativen Lebens habe ich aus Unkenntnis nicht genannt. Dieses immense Wirken macht mich sprachlos. Es fasziniert mich um so mehr, da der Mensch Ivan Ivanji –warmherzig und feinsinnig zugleich– keineswegs ein Karrierist ist, einer, der sich vor- oder gar aufdrängt. Es scheint mir, als hätte sein Überleben, seine persönliche Buchenwald-Befreiung, ihm seit dem 11. April 1945 die Verpflichtung auferlegt, aus dem Leben eines Buchenwaldhäftlings gewissermaßen herauszutreten, es loszuwerden – und zwar als lebenslange schöpferische Aufgabe. Natürlich hat Ivan Ivanji auf diesem Weg seine Lagererlebnisse und -Erfahrungen in Romanen, Essays, Vorträgen usw. geschildert (Ich scheue mich vor dem Wort „verarbeitet“). Er trat und tritt noch heute in dieser Mission auf. Auch in Weimar und Buchenwald. Es ergab sich, dass er als Dolmetscher des Jugoslawischen Außenministers Marko Nikezic 1968 anläßlich eines DDR-Staatsbesuchs das Gelände von Buchenwald erstmals wieder betrat, besser: betreten musste. Es kam zu einer Begegnung mit einem anderen Häftling, der den Staatsgästen die Gedenkstätte und sich selbst als Häftling Nr. 921 vorstellte. Ivan Ivanji beschreibt es so: „Ich blieb im Hintergrund und hörte also nicht, was der ehemalige Häftling meinem Minister sagte, schon gar nicht behielt ich seinen Namen, aber Nikezic rief tatsächlich fröhlich, was mich wahnsinnig ärgerte: ´Wir haben auch so einen! Ivanji, wo sind Sie?` Also musste ich wohl oder übel nach vorne treten und stellte mich tatsächlich mit ´58116` vor. (…) Das gefiel, was ich nachträglich durchaus verstehe, den anwesenden Radioreportern und sie steckten uns ihre Mikrofone unter die Nase mit der Bitte, wir sollten die Vorstellung wiederholen – was ich schroff ablehnte, weil ich sonst losgeheult hätte.“[1]

Seitdem sind Weimar und Buchenwald für Ivan Ivanji paradoxerweise eine Art zweite Heimat geworden. Die Gedenkstätte Buchenwald lädt ihn bis heute fast jährlich zu Tagungen, Gedenkveranstaltungen und Lesungen ein, und er kann –wie damals mit Nikezic– immer im berühmten Weimarer Hotel „Elephant“ übernachten, in dem schon Goethe, Schiller, Bach, Heine, Thomas Mann und … Hitler logierten. Die häufigen Weimar- und Buchenwaldbesuche haben auch viel mit der engen Freundschaft zu dem Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, zu tun. Ivan Ivanji geht den Interviewsequenzen darauf ein.

Zusammen mit Volkhard Knigge waren wir als Drehteam auch für einige Sommertage zu Besuch bei Ivan in Belgrad. Wir saßen in Café`s, Restaurants und in Ivans kleinem Appartement. Wir genossen den heißen Balkansommer mit seinen Gerüchen nach Knoblauch und Hitze, seiner Wassermelonenröte an den langen Abenden. Ivan war voller Anekdoten über Schriftsteller und Politiker, wir redeten viel über den Zerfall „seines“ Jugoslawien, über die Bombardements der NATO auf Belgrad. Wir besuchten Ivans Geburtsort Zrenjanin, eine Serbische Provinzstadt im Banat. Die ehemalige Wohnung der jüdischen Arztfamilie Ivanji ist mittlerweile Kreisbüro einer rechtsnationalen Partei… In jenen Tagen gingen wir mit Ivan auch über das verfallene Messegelände von Belgrad. Gestrüpp, sengende Hitze, ein Getränkekiosk, eine marode Sporthalle. Zur Zeit der Okkupation durch die Deutschen war das alles ein KZ. Hier ist die Mutter von Ivan Ivanji wahrscheinlich 1942 in einem mobilen Gaswagen ermordet worden. Später, unweit des Wohnhauses von Ivan, standen wir vor einer Brache auf der Kinder Fußball spielten und wo an einer Begrenzungsmauer eine kleine Gedenkplatte angebracht war. Ein Ort von Geiselerschiessungen. Einhundert Menschen für einen getöteten Deutschen Besatzer. Ivan Ivanjis Vater war unter diesen Einhundert. Ivan Ivanji selbst ist im Frühjahr 1944 verhaftet und über Auschwitz nach Buchenwald deportiert worden, wo er am 6. Juni ankam.

Ich sehe mich mit Ivan abends, es ist noch nicht ganz dunkel, auf seinem Balkon stehen. Wir schauen auf die Skyline dieser so schönen Stadt Belgrad. Wir sagen gar nichts und lassen uns in dieser schönen Stimmung für eine Weile treiben. Unser Blick geht geradeaus auf Hochhäuser, Kirchtürme und Wohnblocks. Schräg unten ist der Tötungsort von Ivans Vater.

Zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung am 17. April 2016 wird Ivan Ivanji wieder nach Buchenwald kommen. Er wird eine Rede halten, es wird gefeiert werden. Ich freue mich auf ihn. Wir werden uns umarmen, und er ist nicht „58116“ sondern ein Freund und Lebensmensch.

[1] aus: Ivan Ivanji „Titos Dolmetscher – Als Literat am Pulsschlag der Politik“

Die Bücher von Ivan Ivanji sind auf Deutsch größtenteils im Wiener Picus Verlag erschienen:

http://www.picus.at

Text und Foto Siegfried Ressel